Gedanken zu Glenn Gould
Ein Mann und sein Mützchen. Glenn Gould schätzte die Einsamkeit als Quelle der Inspiration. Es wäre jedoch
falsch, ihm das Klischee des weltfernen Träumers und Leidenden anzuhängen. Sein Interesse an der Welt, an
den Menschen und ihren Errungenschaften war enorm, auch wenn er viele Kontakte ausschließlich per Telefon
pflegte. Die Erfahrung, eine eigene Familie zu gründen, machte er nicht. Auch über eine längere und glückliche
Beziehung zu einer Frau ist nichts bekannt.
An Bankraub oder Schlittschuhfahren hatte er überhaupt kein Interesse.
Es gibt nicht so viele Menschen, die in ihrem Leben soviele Widersprüche aufgeworfen haben, wie der 1982
verstorbene Pianist Glenn Gould. Aber diese Widersprüche sind nicht alle unauflösbar, sondern Ausdruck
eines hochanalytischen, vernetzt und kontrapunktisch denkenden Geistes und eines ziemlich kompromisslos
geführten Lebens. Das Kontrapunktische muß eine ganz zentrale Rolle in Goulds Denken gehabt haben. In
seinen musikalischen Präferenzen, in seinen Hörspielen, in seinen Texten, in seinen Handlungen.Das Widersprüchliche
war für ihn mehr als nur eine exzentrische Masche. Gould hat mehr als einmal geäußert, daß er
Mozart eigentlich nicht mag, hat sich aber gleichzeitig die nicht geringe Arbeit gemacht, alle seine
Klaviersonaten einzuspielen. Jedoch auf recht kompromisslose Art: die Sonaten, die ihm nicht gefielen, hat er
auch entsprechend niedergespielt.Andere, besonders Mozarts frühe Sonaten, hat er sehr wohl geschätzt und sehr
liebevoll interpretiert. Ähnlich ging es ihm wohl mit Beethoven. Über dessen mittlere Schaffensphase äußerte er einmal, daß
Beethoven zu jener Zeit mehr damit beschäftigt gewesen sei, Beethoven zu sein, als gute Musik zu komponieren.
Und von der Hammerklaviersonate schrieb er, daß sie eines der unpianistischsten und undankbarsten Klavierstücke,
gespickt mit mathematischen Albernheiten, überhaupt sei. Trotzdem war Beethoven in seiner ersten Lebenshälfte
zentraler Bestandteil seines Repertoirs. Insbesondere die 5 Klavierkonzerte führte er wieder und wieder auf.
Schon diese beiden Beispiele Mozart und Beethoven zeigen, daß Gould absolut unvoreingenommen und hellwach
auch mit den "Heiligsten" der abendländischen Musikkultur umging.
"Die posierenden Triller und Arpeggios, sämtlich mit ihrem Gezwitscher überflüssig für die thematische Grundaussage.
All das hat dazu beigetragen, eine Konzerttradition aufzubauen, die einige der peinlichsten musikalischen Beispiele
für das menschliche Bedürfniss nach Zurschaustellung geliefert hat." Goulds Intelligenz kannte kein Erbarmen.
Hier mit Leonard Bernstein (links).
Berühmt geworden ist Glenn Gould mit Bachs Goldberg Variationen. Doch halt,zuerst wollen wir etwas ganz
Zentrales wissen: wie gut hat Gould eigentlich wirklich Klavier gespielt? Die Frage beantwortet sich mit seinem
Repertoir fast von selbst: wer Bachs Kunst der Fuge, Prokovjievs und Skrijabins Klaviersonaten etc. öffentlich
bzw. im Studio spielt, muß sehr gut spielen können. Was es schwer macht, Goulds Können in einen Vergleich mit
anderen Meistern zu stellen, ist die Art seiner Interpretation und seine Abscheu vor virtuosen Zirkusstückchen.
Gould hat übrigens Klavierwettbewerbe vehement abgelehnt. Lisztsches Oktavengedonner lehnte er genauso ab wie
Chopins "Süßlichkeit". Über seine Kollegen äußerte er sich zurückhaltend, wohl auch aus dem Grund, weil er sich
eher selten Aufnahmen anderer Pianisten anhörte, um sich seine Interpretationsphantasie nicht zu
"verderben".
Interessant ist auch, daß Gould nie Klavier unterrichtete. Als Begründung gab er an, er habe Angst, daß es ihm ginge
wie dem Tausendfüßler, der anfängt, über seine Gehtechnik nachzudenken und daraufhin nicht mehr laufen kann.
Gould sagte einmal, er spiele intuitiv und habe auch in der Studienzeit nie mehr als maximal 3 Stunden am
Tag geübt. Mehr sei Blödsinn. Auch Fingersätze notierte er sich nie, denn er war der Meinung, daß sich Selbige
mit dem Spielen des Stückes automatisch bilden.
Das trifft bei Goulds enormer Begabung zu. Für einen weniger Begabten, der eisern
jahrelang 9 Stunden am Tag übt, um dann doch nur als unbedeutender Klavierlehrer zu enden, eine niederschmetternde
Aussage.
Glenn Gould und die Orgel
Ein relativ unbekannter und vielleicht auch unterschätzter Punkt in Goulds Leben ist sein Verhältniss zum Orgelspiel.
Zwischen 1942 und 1949 , also zwischen seinem 10. und dem 17.Lebensjahr studierte Gould (neben der Schule her) Orgel
am Toronto Conservatory of Music bei Frederick C. Silvester. Gepaart mit Musiktheorie und Komposition. Nach diesen
7 Jahren warf Gould die Orgel wieder über Bord, weil er seinen Schulpflichten ja auch noch nachkommen mußte und,
nicht zu vergessen, sein Klavierstudium bei Alberto Guerrero durchzog. Dennoch haben ihn diese 7 "Orgeljahre" stark
geprägt:" Die Orgel hat einen entscheidenden Einfluß nicht allein auf meinen späteren Geschmack bei der Auswahl meines
Repertoires ausgeübt, sondern auch, glaube ich, auf den physiologischen Aspekt meines Klavierspiels. Es war eine
Ausbildung von unschätzbarem Wert....Als ich neun oder zehn war, habe ich vor allem Bach und Händel an der Orgel gespielt,
und ich verdanke es wirklich der Orgel, daß mein Interesse für diese Komponisten geweckt wurde, das sich dann einfach
aufs Klavier übertrug....Ich hatte gelernt, daß der einzige Weg, bei Bach eine Phrase , ein Thema oder irgendein Motiv
wiederzugeben, eben nicht der war, wie man es bei Chopin machen würde (der Versuch, wissen Sie, mitten in so einer
Phrase ein Crescendo unterzubringen), sondern es nur durch rhythmische Abstufungen und Atembögen gelingen konnte. Man
mußte ganz anders (an das Klavier) herangehen - so als ruhe wirklich die ganze Verantwortung in den Fingerspitzen, als
könne man fast den wunderbaren, pfeifenden Atem einer alten Orgel einfangen. Daraus ergibt sich, daß der Ausdruck so gut
wie nie durch Legato-Bindungen und Überlappungen erzielt wurde, ganz zu schweigen von den Pedaleffekten, mit denen Bach
so oft am Klavier gespielt wird..." Goulds phänomenales Bachspiel gibt ihm recht. Überhaupt ging Gould
äußerst sparsam mit dem Haltepedal um. Er konnte sich es leisten, auf das "Mainstream-Gaspedal" weitestgehend zu
verzichten, da er Dank seiner erstaunlichen Anschlagskunst trotzdem ein vollen Klang aus dem Flügel herausholen konnte
(was Elie Ney nicht immer so recht gelang, oft hört man ihrem Spiel die Askese an- bei Gould nie). "Am Klavier benutze
ich fast nie das Fortepedal, und als ehemaliger Organist tendiere ich dazu, jede Musik von ihrer Basslinie her zu
erschließen. Wenn diese (wie bei zahlreichen Werken des 19.Jahrhunderts) nicht so solide ist, wie ich es mir wünschte,
kann es vorkommen, daß ich sie entsprechend verändere: Verzögerungen, Überbindungen - jedes Hilfsmittel ist mir recht,
um ihr Stabilität zu verleihen." Eine Herangehens- und Sichtweise, die wohl von keinem anderen Pianisten so kompromisslos
angegangen wurde. Auch Goulds dezenter Seitenhieb auf die Musik des 19.Jahrhunderts ist typisch für ihn. Dazu später mehr.
"Nur weil ich schon in so jungen Jahren mit dem Orgelspiel begonnen habe, ist mein musikalisches Denken heute noch so,
als würde ein Werk mit drei "Händen" gespielt (wobei die Füße den Part der dritten "Hand" vertreten). Musik zerfällt
für mich daher in mehr kontrapunktische Schichten als für die meisten anderen Pianisten." Gould dürfte ziemlich genau
gewußt haben, wo seine Stärken und wo seine Schwächen lagen. Wobei diese Schwächen eher im menschlichen Bereich lagen .
Als Pianist hatte er keine Schwächen. Nur Abneigungen gegen bestimmte Stile oder Komponisten. Zum Beispiel gegen Chopin
und Liszt, zwei der intimsten Klavierkenner aller Zeiten.
Gould und Chopin
"Zur Entspannung (und nur für mich) kommt es ein-, zweimal
im Jahr vor, daß ich etwas von Chopin spiele. Aber weder überzeugt er mich, noch gefällt er mir...ich finde, Chopin -
es scheint idiotisch zu sein , was ich jetzt sage, und ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, überheblich zu
sein -, also, ich finde, Chopin war unzweifelhaft ein Wunder an Begabung, aber eben kein großer Komponist.... Sein
Verständniss für´s Klavier war sicher ohne Vorläufer, und womöglich hat keiner nach ihm so instrumentengerecht
geschreiben wie er. Doch trotz alledem bereitet er mir Unwohlsein. Außerdem sind die Komponisten, deren Musik ich
spiele, allesamt über das Instrument hinausgegangen." Geheimnissvoll und zugleich aufschlußreich ist diese
Aussage. Es muß eine emotionale Barriere gegenüber Chopin in Gould gewesen sein, denn Chopin hat sehr wohl
kontrapunktisch gedacht und war ein großer Verehrer Bachs. Auch achtete Chopin sehr sorgfältig auf Stimmführung,
auch im Bass. Zu sagen ,daß Chopin kein großer Komponist war , kann man nur aus dem Anspruch heraus, den Gould stellte,
nämlich, daß ein großer Komponist Musik komponieren müsse, die über das Instrument hinausgeht.
Kevin Bazzana hat einen weiteren interessanten Ansatzpunkt für Goulds Abneigung gegen Chopin angeführt: "...Einer der
Hauptgründe, weswegen Gould Chopin bisher gemieden hatte, war sein rhythmisches Denken, das mit dem Chopins unvereinbar
schien. Dessen Musik verlangt nach einer Art von Spontanität, rhythmischer Freiheit und Rubatospiel, denen Goulds
Neigung zu rhythmischer Kontinuität widersprach." Trotzdem wagte Gould 1970 eine Einspielung von Chopins h-moll
Klaviersonate. Was dabei herauskam, war "eine bestechend klare h-moll Sonate, fast ohne Rubato und fast ohne Pedal:
sehr wenig Chopin und sehr viel Gould." Zum gleichen Termin spielte Gould übrigens auch fünf "Lieder
ohne Worte" von Mendelssohn - Bartholdy ein, den er bemerkenswerterweise sehr schätzte.
Interessant ist auch, daß Gould Chopin zur "Beruhigung" spielte. Vielleicht wollte er sich bei diesen Gelegenheiten
von seiner permanenten kontrapunktischen Kopfarbeit erholen.
Seine Kritik an Chopin trifft in gewisser Weise auch auf
ihn selbst zu: auch Gould war ein Wunder an Begabung, aber kein goßer Komponist (was den Umfang seines Ouevres betrifft -
die Qualitäten seiner Kompositionen möchte ich nicht in Frage stellen). Oberflächlich betrachtet.
Im Grunde war Gould
durch und durch Komponist. Er näherte sich den Stücken so, als habe er sie selbst komponiert, nicht selten nahm er
auch selber kompositorische Änderungen vor. Alles, was er schuf, seine Texte, seine Hörspiele, seine
Fernsehsendungen - alles waren hervorragende Kompositionen.
Auf dem Bild Goulds klassisches Winter- wie Sommeroutfit: Wollhandschuhe, Mütze und dickes Mäntelchen. Gould
meinte dazu, daß dies keine Marotte von ihm sei, sondern daß er von panischer Angst gequält werde, sich zu
erkälten.
Gould und die Klaviermusik des 19.Jahrhunderts
Sehr aufschlussreich ist ein Brief, in welchem sich Gould über die Klaviermusik der ersten Hälfte des
19.Jahrhunderts äußerst: "....Ich finde die Klaviermusik, die in der ersten Hälfte des 19.Jh. geschrieben wurde
als all diese Komponisten tätig waren (gemeint sind u.a. Chopin, Schubert und Schumann) widerlich.
Ich finde sie mechanistisch. Ich finde, sie ist ein echtes Produkt der industriellen Revolution, sie beutet die neu
entwickelten Möglichkeiten des Klaviers aus - und ich finde sie außerdem unangenehm sentimental und voller Salonmätzchen."
Ein hartes Urteil, teilweise zutreffend, aber auch viel Gutes unter den Teppich kehrend. Mag sein, daß Gould beim
Verfassen dieses Briefes in schlechter Laune war, denn ein Musiker seines Grades kann eigentlich unmöglich die
Geniestreiche eines Schuberts oder Schumanns völlig übersehen haben. Über die zweite Hälfte des 19.Jh urteilte
er deutlich wohlwollender. Besonders Wagner und Brahms sagten ihm zu. Über letzteren befand er:" Brahms war nicht
dagegen gefeit, das Klavier mechanistisch zu behandeln; einige seiner berühmten Stücke - die Variationen über ein
Thema von Händel und von Paganini zum Beispiel - tun genau das. Andererseits konnte er auch erstaunlich zart und
verhalten schreiben - besonders ganz am Ende seines Lebens...." Mit "mechanistisch" meinte Gould wohl das
(oft vordergründige) Anwenden virtuoser, klavierspezifischer Effekte wie z.B. Doppeloktavenspiel, perlendes
Verzierungswerk etc. um ihrer selbst Willen. Denn das läßt sich nur auf dem Klavier spielen und war damit für
Gould vom musikalisch, kompositorischen Anspruch her nicht universal genug. Unnötige "Zirkusmätzchen" widerten
Gould schlichtweg an, obwohl-oder wahrscheinlich gerade deshalb, weil ihn aufgrund seiner enormen, wohl
intuitiven Technik und seiner weit über das bloß pianistische Denken gehenden Intelligenz die effektheischenden
Bemühungen weit weniger bemittelter "Kollegen" mit Befremden erfüllten.
Glenn Gould und Vladimir Horowitz
Vladimir Horowitz (rechts) mit S.Rachmaninov (links) und Willi dem echten Naturtrüben (mitte).
Hier entsteht die interssante Frage, was Gould von Vladimir Horowitz, dem Klaviervirtuosen par excellence, hielt.
Kurz gesagt: nichts. Und genauer gesagt: er hatte geradezu eine persönliche Aversion gegen ihn.
In mehreren Aufsätzen zog er über Horowitz her und taufte dessen Comeback nach einer schweren Nervenkrise von
"Historical Return" in "Hysterical Return" um. Nun, auch große Musiker sind nur Menschen und haben oft
besonders deftige Methoden, um ihrem Unmut über irgendetwas freien Lauf zu lassen. Auch in den obersten
Etagen gibt es Neid, Boshaftigkeiten und Mißgunst. Aber warum erboste sich Gould ausgerechnet über Horowitz
so derartig? Warum überging er ihn nicht wie die meisten anderen seiner Kollegen mit vornehmen Schweigen?
Letztlich kann man nur mutmaßen, aber es gibt ein paar Ansatzpunkte. Da war natürlich Horowitz´ Freude
am schier grenzenlos Virtuosen. Für seine Liszt-, Skrijabin- und Tschaikowsky-Einspielungen gibt es wohl nichts
Vergleichbares. Aber es ist kein hohler, nur blendender Glanz, sondern die optimale Antwort auf die
Erfordernisse, die diese Stücke stellen. Viele Liszt-Stücke verlangen nun einmal diese geradezu kindliche
Freude am Virtuosen, erfordern dieses Lebensgefühl, das sich an gewaltigen Klangkaskaden ergötzt. Dies
ist in keinster Weise abfällig gemeint. "Die wilde Jagd" läßt sich nuneinmal nicht mit stiller Versenkung
in kontrapunktische Verästelungen überzeugend darbieten. Gould reagierte geradezu kindlich auf das
Horowitzsche Doppeloktaveninferno. "Das kann ich auch!", soll er einmal trotzig gesagt und den
nächststehenden Flügel im Studio mit Doppeloktaven traktiert haben. Eine andere Geschichte behauptet, daß
Gould einmal zufällig im Studio Zeuge wurde (beide waren beim selben Plattenlabel unter Vertrag), wie Horowitz
die Tontechniker in den Wahnsinn trieb, weil er bei jedem "Take" irgendwelche Schnitzer spielte. Gould
machte den süffisanten Vorschlag, die Stücke soundso zu schneiden und die Stellen, die Horowitz wohl nicht
spielen könne, persönlich hinzuzufügen. Und in diesem Punkt zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen
den Beiden: während Horowitz falsche Töne zugunsten einer direkten, "ungezügelten" Interpretation in
Kauf nahm, bastelte Gould oft endlos im Studio an einer für ihn perfekten Interpretation herum. Für ihn
war es völlig normal, mehrere Einspielungen desselben Stückes zu machen und dann solange die Bänder
zusammenzuschnipseln, bis er zufrieden war. Nicht weil er sich dauernd verspielte (laut Zeugen gab es
wenig Pianisten, die so fehlerlos spielten wie er), sondern weil er auch das kleinste Detail perfekt
ausleuchten wollte. Gould, der "Technikfreak", Horowitz der Draufgänger. Nun ist es aber nicht so, daß
sich Horowitz nur den Virtuosenstücken zuwandt. Auch was er aus "kleinen" Kompositionen von z.B. Scarlatti
machte, ist einmalig in seiner Tiefe und Entrücktheit. Vielleicht war es das, was Gould mit einer Angst
vor ernsthafter Konkurrenz erfüllte. Jedenfalls beendete er seine Scarlatti-Einspielungen, als er erfuhr,
daß Horowitz sich derselben annahm. Wie gesagt, ganz klären lassen wird sich Goulds Animosität gegen
Horowitz wohl nie, besonders unter Berücksichtigung des folgenden Punktes:
Glenn Gould und Artur Rubinstein
"Treffen sich zwei Kannibalen. Sagt der eine:"Ich hab letztens einen Clown gegessen." Fragt der andere:
"Und, wie hat er geschmeckt?"
"Irgendwie komisch." "
Gould (links,lächelnd) konnte auch hervorragend Witze erzählen. Artur Rubinstein (rechts, lachend) gefällt´s.
Obwohl Gould sich relativ geringschätzig über Chopin äußerte, war es ausgerechnet Artur Rubinstein, dem nicht nur
die seltene Ehre widerfuhr, von Gould beachtet zu werden, sondern sogar von selbigem "interviewt" zu werden (es war
eher eine Diskussion, speziell über das öffentliche Konzertieren und die Arbeit im Studio, als denn ein Interview)
und Gegenstand einer hochamüsanten Kurzgeschichte aus Goulds begnadeter Feder zu sein ("Erinnerungen an Maude Harbour
oder Variationen über ein Thema von Artur Rubinstein". Dieses "Thema" sind natürlich Rubinsteins endlose
Frauengeschichten, die dieser Grandseigneur genußvoll in seinen beiden sehr lesenswerten Selbstbiographien schildert.)
Diese Sympathie Goulds ist umso geheimnissvoller, als daß diese beiden Pianisten von ihrer Spielweise, ihren
Lieblingsstücken und - Komponisten, von ihrer Lebensweise her unterschiedlicher kaum hätten sein können. Das
Einzige, was beide offensichtlich gemeinsam hatten, war eine enorme Begabung für die Musik und das Klavierspielen
im Besonderen.. Beide waren "beschenkte" Virtuosen ,denen der Begriff "technische Schwierigkeiten" eigentlich nichts
sagte. Und beide gingen relativ seriös mit ihrer Virtuosität um. Wenn sie etwas Virtuoses spielten, klang es nicht
schwer. So einfach ist das.
Glenn Gould und der Jazz
Es gibt Musiker ,die eine absolute rhythmische Souveränietät ausstrahlen, wie z.B. Vinnie Colaiuta und Tony Williams
am Schlagzeug, Frank Sinatra als Sänger, Jaco Pastorius am Bass. Und zu diesen Musikern gehört auch Glenn Gould. Man kann
diese rhythmische Souveränität nur schwer mit Worten erklären. Es ist nicht unbedingt permanente, computerartige
Präzision, nein eher ein Spielen mit dem "Puls", ohne auch nur einen Moment unsicher zu werden dabei. Frank Sinatra
hatte die seltene Fähigkeit, sich beim Singen meilenweit hinter die "Time" kippen zu lassen, um dann wieder völlig
selbstverständlich auf Punkt "X" da zu sein. Sinatras Schlingern um die Time ist legendär und hat sogar Miles Davis
fasziniert und inspiriert. Auch Glenn Gould spielte mit der "Time", wenn auch zurückhaltender als Sinatra. Seine
minimalen Verzögerungen an gewichtigen Stellen z.B. dem Einsetzen einer neuen Stimmme in einer Fuge, sind kaum nachzuahmen
und zeugen von der Fähigkeit, auch die Komponente Rhythmus souverän in den Dienst des musikalischen Ausdrucks zu
stellen. Eine Fähigkeit, die oft sogar bei berühmten Musikern fehlt oder nur schwach ausgeprägt ist. Durch diese
rhythmische Präsenz, durch sein enormes harmonisches Verständniss und sein technisches Können wäre Gould natürlich
hervorragend für den Jazz geeignet gewesen. Nun, wie stand er zum Jazz?
Über Oskar Peterson sagte er:"...Ich habe seine pianistische Begabung immer für höchst ungewöhnlich, ja für
außergewöhnlich gehalten und habe innerhalb der Grenzen meines Verständnisses für Jazz seine Werke über viele, viele
Jahre mit großer Begeisterung gehört. Diese Grenzen haben sich in den letzten Jahren jedoch nicht merklich erweitert..."
Letzterer Satz ist bemerkenswert.
Und über Duke Ellington meinte er: "Er war ohne Frage einer der einfallsreichsten Harmoniker des Jahrhunderts
und sein Werk wird sicherlich auf jeder Ebene der Betrachtung noch auf Jahre hinaus für alle Musiker von Interesse
sein." Das ist ein dickes Lob aus berufenem Munde, denn Gould war von Bachscher Kontrapunktik bis Wiener Zwölftonschule
mit sämtlichen harmonischen Wassern gewaschen.
Möglicherweise fehlte Gould das Polyphone, das Kontrapunktische im Jazz.
Friedrich Gulda hat zwar in dieser Richtung geforscht, seine Ergebnisse konnten aber bislang niemanden so richtig
überzeugen. Ein anderes großes Hinderniss könnte für Gould das Spontane, Improvisatorische im Jazz gewesen sein.
Gould hatte wohl eine große Scheu vor Situationen, die spontane Reaktionen erfordern. Das ging soweit, daß er auch
Interviews mit seiner Person im Vornherein bis ins Detail entwarf, damit er nicht durch unerwartete Fragen ins Schleudern
kommen konnte.
Fazit: Gould erkannte den Wert des Jazz und achtete die großen Jazzmusiker,hielt sich selbst aber aus der Sache raus.
Schlußworte:
Die Liebe ist vergänglich, der Durst bleibt lebenslänglich.
Mit diesen wenigen Zeilen läßt sich die komplexe Persönlichkeit Glenn Goulds natürlich nur andeuten. Wenn es mir
die Zeit genehmigt, werde ich bald einen Teil 2 folgen lassen, der sich mehr mit dem Thema "Gould wie er sonst
so leibte und lebte" beschäftigt. Wenn Sie sich noch mehr mit diesem außergewöhnlichen Mensch und Pianisten
beschäftigen wollen, empfehle ich Ihnen wärmstens die beiden folgenden Bücher. Zudem gibt es im Internet
Unmengen Informationen über den Herren mit dem Köfferchen....
Wolfgang Schüler. Dezember 2003
Quellen:
Alle Zitate entstammen den beiden sehr lesenswerten Büchern:
Michael Stegemann
"Glenn Gould"
Leben und Werk. Briefe
Zweitausendundeins Verlag, Frankfurt am Main 2003 ISBN 3861506009,
und
"Glenn Gould: Von Bach bis Boulez& Vom Konzertsaal zum Tonstudio"
Herausgegeben von Tim Page und übersetzt von Hans-Joachim Metzger,
Zweitausendundeins Verlag, Frankfurt am Main 2003 ISBN 3-86150-499-5
Ebenfalls
sehr lohnend, ja Pflichtlektüre: "Kevin Bazzana: Glenn Gould oder
Die Kunst Der Interpretatition" und "Kevin Bazzana: Glenn Gould - Die
Biographie". Speziell ersteres Buch gibt Einblicke in Goulds
Musikverständniss, die selbst bei M. Stegemann so nicht auftauchen.
Oder wußten Sie, daß Gould schriftlich und spielenderweise in
Kompositionen Bachs, Händels, Mozarts und anderer eingegriffen
hat? Und wie er das gemacht hat? Und warum?
Also: besorgen, lesen und staunen oder nachdenken oder was auch immer....